8/18/2015

[Artikel] Und täglich grüßt der Zeigefinder (Ehrlichkeit in der Öffentlichkeit)


Harald Martenstein, ZEIT Magazin

Oh ja, es wurde mal wieder Zeit für eine kleine Ode an einen Artikel (die letzte zum Thema Inklusion findet ihr hier). Lustiger Weise geht es auch in diesem kleinen Schmuckstück vom großartigen Harald Martenstein thematisch in Richtung Behinderung, dieses Mal allerdings auf eine ganz andere Art und Weise.

Harald Martenstein habe ich des öfteren im Blickfeld, weil mich (und hoffentlich noch mehr aus meiner Klasse, Gott, der Mann ist einfach gut!) eine sehr liebe Deutsch-jetzt-nicht-mehr-Referendarin auf die kleinen Artikel-Perlen aufmerksam gemacht hat, die er von Zeit zu Zeit verfasst. Das ist jetzt mittlerweile schon ein sehr gutes halbes Jahr her und als ich heute durch die ZEIT online-Seite getigert bin, hatte ich beim Erblicken von Titel, Kurzbeschreibung und Verfasser einfach das tiefe Bedürfnis, genau das von ihm zu lesen. Und was soll ich sagen: Harald Martenstein ist mein Seelentier. Im übertragenen Sinne, zumindest manchmal. 

Aber genug Vorgeplänkel, ich will hier ja eigentlich über den Artikel sinnieren und keine Anekdoten zu meiner Identifikation von Harald Martenstein als mein Seelentier erzählen. 

"Monica Lierhaus hat offen erklärt, sie wäre lieber tot als behindert. Sofort war das Internet voller böser Kommentare. Müssen wir unsere Gefühle einer Norm anpassen?"
Harald Marteinstein, Kurzbeschreibung des Artikels im ZEIT Magazin


Monica Lierhaus, für all diejenigen unter euch, die sie nicht kennen und noch nicht den Artikel gelesen haben und deswegen jetzt wissen, wer sie ist (so eine Faulheit, also wirklich; hier könnt ihr euren eigenen Hang zur siebten der sieben Todsünden revidieren), ist eine ehemalige Sportreporterin, die nach einer Hirn-OP aufgrund eines Aneurysmas, während der Komplikationen auftraten, erst in ein künstliches Koma versetzt wurde und anschließend mit sehr beeinträchtigter Sprech- und Bewegungsfreiheit, de facto also körperlich behindert, aufwachte. 

Ich bin selbst nicht behindert und kann mir nicht im Ansatz vorstellen, durch welches Maß an Hölle Frau Lierhaus gegangen ist, weshalb jedes Urteil meinerseits untertrieben wäre, aber ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, die meisten Menschen haben nicht die Art von grausamer Erfahrung, die es braucht, um in irgendeiner Weise urteilen zu können. Und da geht das Problem auch schon los: Offenbar teilen nicht alle Menschen die Meinung, dass man sich manchmal nicht anmaßen sollte, zu urteilen. Wie ich die digitalen Zeigefinger in der Kommentar-Sektion von Online-Zeitschriften liebe. Das Leben wird doch gleich viel reicher, wenn man halb-anonyme Hass-Kommentare im Internet liest. Es gibt nichts besseres gegen zu niedrigen Blutdruck.

"Sie stellt das Leben von Menschen mit Behinderung infrage." - "Sie zeichnet ein falsches Bild" - "Sie wertet das Leben von Behinderten ab." - "Einfach armselig."
Beispielskommentare zu Monica Lierhaus’ Meinung* ausgesucht von Harald Martenstein 
(*ich halte mich mit Absicht mit dem Begriff "Bekenntnis" zurück, weil ich diese Formulierung für unangebracht halte. Die Wahrheit muss ja nicht immer zum Skandal geschrieben werden)

Nein, tut sie nicht. - Nein, tut sie nicht. - Nein, tut sie nicht. - Ist das Leben manchmal, aber in dem Fall bestimmt nicht der Mensch. Noch Fragen? Und bitte keine rhetorischen. Das ist nämlich genau das Problem: In Bezug auf Behinderung und zum Thema der eigenen Einschätzung zur Wertigkeit des eigenen Lebens. Wenn mich jemand fragt, ob ich lieber behindert wäre oder tot und ich empfinde die Antwort "tot", dann wäre es heuchlerisch mit "behindert" zu antworten. Also entweder wir stehen dazu, dass wir rhetorisch fragen und nicht mit einer anderen Wahrheit umgehen können oder wir kommen mit der Antwort klar. Zumal nicht gesagt wurde, dass behinderter Menschen im allgemeinen nichts wert sind, sondern das Leben manche Qualen eben nicht. Diese Meinung vertritt man nicht aus Lust, sondern Erfahrung und keiner hat da das Recht zu verurteilen. Leben und Tod ist etwas sehr persönliches.

Aber das Problem ist vielleicht gar nicht, dass Frau Lierhaus eine Meinung hat, die nicht mit der Meinung aller anderen Menschen übereinstimmt. Kann gut sein, dass man auch Schlimmes erlebt und das Leben trotzdem nie gegen den Tod tauschen würde - auch das ist vollkommen in Ordnung. Das Problem ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, die mir manchmal scheint, als würde sie sich von Heuchelei ernähren. Es ist, als würden alle geradewegs darauf warten, dass irgendjemand etwas kritisches sagt oder tut, damit man sich gleich auf ihn stürzen kann. Es wird immer etwas gebraucht, über das man lästern und schimpfen kann, wir müssen immer böse Kommentare verfassen, immer einen Menschen irgendwie nieder machen. 
Von der ganzen Energie, die wir verbrauchen, um sinnlos** zu hetzten, könnten wir ganz andere Probleme lösen. Zum Beispiel Schäden an wichtigen Denkorganen und die beeinträchtigten Leben der Menschen, die unter ihnen leiden. Nur so eine Idee. 

Ich möchte damit nicht sagen, dass wir aufhören sollen Fragen nach Moral und Richtigkeit zu stellen. Fragen sind großartig und können nur vorantreiben. Aber hört auf rhetorische Fragen zu stellen, wo keine rhetorischen Fragen hingehören. Behindert oder lieber tot? Was geht's dich an.

** Damit meine ich nicht, dass jede Hetzte gleich ungerechtfertigt ist. Natürlich kann man sich über Vergewaltiger, Tierquäler und anderen Abschaum der Gesellschaft empören, nicht, dass ihr mich jetzt falsch versteht. Und ich bin sicherlich nicht die richtige Person um zu sagen, was verurteilt werden darf und wo man lieber vor der eigenen Haustür kehrt, aber manchmal wenigstens zu versuchen, die Position des anderen nachzuvollziehen, tut im Regelfall nicht weh.

2 Kommentare:

  1. Ich versuche, nicht allzu sehr im Rage-Modus zu verweilen.
    Es ist einfach eine fucking Frechheit (mist, es geht schon los...), wenn andere Menschen, sich anmaßen über etwas urteilen zu dürfen, von dem sie einfach nicht die geringste Ahnung haben. Die Frau IST behindert, die hat ja wohl alles Recht der Welt, zu sagen, ob sie lieber so wäre wie jetzt oder tot. Was gibt es da eigentlich wieder für hirnverbrannte Kackbratzen-Dumpfbacken, die glauben, ihren behinderten Mecker-und-Anklage-Zeigefinger rausholen zu dürfen?! (Behindert hier nicht im Sinne einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung, du verstehst :D) Müssen die irgendwelche Mini-Schrumpel-Pimmel kompensieren?!
    Meine Fresse.... bin ich froh, dass ich normalen Blutdruck habe...

    Mich nervt so was, ohne Witz. Mich regt es auf und ich möchte am liebsten im Strahl brechen, wenn ich von sowas nur höre oder aus dem Augenwinkel lese - weshalb ich in letzter Zeit auch um Nachrichten und dergleichen einen Bogen mache. Ist sowieso alles nur irgendwie geschönt, zensiert (ja nicht so krass, wie in sonst was für Ländern, aber auch wir hier haben eine Art von Zensur. Komischerweise passiert nämlich auch immer nur so viel in der Welt, wie in die Zeitung und in die 15 Minuten Tagesschau reinpasst. Naaaaaa, Zufall?).

    Boah nee, ich könnte noch ewig darüber haten, aber lassen wir das lieber. Ich glaube, wir zwei sitzen da auf 'nem sehr ähnlichen Ast! ;) Meinungstechnisch und so. :D

    Liebe Grüße

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    1. Ach, meine Liebe, was soll ich sagen. Mir geht es ja genau so. Ich könnte mich über die Beschränktheit mancher Menschen bis zum jüngsten Gericht aufregen, fürchte aber, dass mir dann in naher Zukunft wahrscheinlich die Halsschlagader platzt. Und das wäre doch sehr unschön.

      Mich kostet es auch Kraft, um 8 den Fernseher anzuschalten und nicht einen großen Bogen um die öffentlich-rechtlichen Sender zu machen. Aber Wut und Verzweiflung hin oder her. Ich versuche einfach zu glauben, dass die Welt ein kleines bisschen hoffnungsvoller wird, wenn man die verdorbenen Seiten nicht annimmt und sie selbst ein bisschen besser macht. Ich gebe mein Bestes, eben auch eine Gegenmeinung zu den "Zeigefingern" zu formulieren und die dann online oder in realen Diskussionen vom Stapel zu lassen. Und ja, man findet immer wieder die Leute, von denen man eigentlich glaubt, ihre Klischees der Ignoranz wären gar nicht menschenmöglich, aber eben auch oft genug "Gleichgesinnte". Und wenn das keine Hoffnung macht...

      Also: Was das angeht, sitzen wir wohl tatsächlich auf einem ähnlichen Ast. Und neben all den Zeigefingern gibt es - das zeigt ja auch der Artikel - Leute, die nicht pauschal verurteilen. Die Welt ist also nicht verloren, solang manche noch ein Licht anlassen. [finde die kleine HP-Anspielung, zumindest im übertragenen Sinne]

      Liebe Grüße

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Danke, dass ihr durch eure Kommentare aktiv zum Training von Antonias Sprunggelenken beitragt. Sollte sie nach eurem Kommentar länger nichts posten, liegt es nahe, dass sie sich beim Rückwärts-Flick-Flack nach dem Entdecken einen Wirbel ausgerenkt hat.

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